Wie keine andere Technologie veranschaulicht die Atomkraft die Ambivalenz der Hochmoderne. In der Geschichte der Sowjetunion spielte sie eine herausragende Rolle, indem sie anfangs ihren Aufstieg zur Supermacht beschleunigte und ihre Zukunftsvisionen bestärkte, später dann aber unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl ihren Niedergang vorantrieb.
Vor diesem Hintergrund ist die sowjetische Nukleargeschichte seit dem Zerfall der UdSSR sowohl in der breiten Öffentlichkeit wie auch in der Forschung auf lebhaftes Interesse gestoßen. Die frühe Forschung konzentrierte sich stark auf „Stalin und die Bombe“ (D. Holloway), während neuere Studien sich besonders mit der Tschernobyl-Katastrophe, ihrer Vorgeschichte und ihren Konsequenzen auseinandersetzen. Gleichzeitig hat die Entwicklung des sowjetischen und postsowjetischen Nuklearsektors, dessen Forschungs- und Produktionsinfrastruktur sowie seiner internationaler Verflechtung der 1960er und 1970er Jahre sowie nach 1991 weit weniger Aufmerksamkeit erhalten. Die vier vernetzten Projekte, die das NucTechPol-Forschungscluster bilden, werden dazu beitragen, diese Leerstellen mit substantiellen Forschungserträgen auszufüllen.
Alle vier Teilprojekte machen sich das Potential der Nukleargeschichte zunutze, Schlüsselerkenntnisse zur komplexen Vernetzung von Technologie, Politik, Gesellschaft und Umwelt zu generieren, die für die Ära der Hochmoderne kennzeichnend ist. Dabei soll NucTechPol den Forschungsstand in dreierlei Hinsicht vorantreiben:
- Integrativer Zugang: Die Teilstudien des Projekts setzen sich zum Ziel, die bisher oft getrennt analysierten technologischen, ökologischen, politischen und kulturellen Dimensionen des Themas enger aufeinander zu beziehen. Neue methodische Zugänge wie das Konzept der „Technopolitics“ (Gabrielle Hecht) oder der „Envirotech“-Ansatz (Sara Pritchard) bilden dafür eine tragfähige Basis. Jedes Teilprojekt wird mindestens zwei dieser Dimensionen behandeln. Erstaunlicherweise hat der technopolitische Ansatz in der sowjetischen Geschichte noch kaum Beachtung gefunden, obschon Politologen das späte Sowjetsystem bereits vor Jahrzehnten als „technocratic socialism“ charakterisiert haben.
- Langzeit-Perspektive: Durch das Prisma der Nukleargeschichte eröffnet das Projekt eine Langzeitperspektive auf die zweite Hälfte der Sowjetgeschichte und darüber hinaus – und mithin auf einen Zeitraum, der bislang meist in chronologischer Fragmentierung untersucht worden ist. Als Modernisierungsvorhaben, das fest ins Gefüge des sowjetischen Projekts einbetoniert wurde (G. Hecht), bestimmte das Atomprogramm politische, gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen in gewollter und unerwarteter Weise tiefgreifend und nachhaltig. Indem die Wechselwirkung zwischen nuklearer Technoscience und Politik, zwischen Fortschrittsvisionen und Untergangsszenarien untersucht wird, können aufschlussreiche Einsichten in die Kräfte gewonnen werden, die das Zukunftsversprechen der Sowjetmoderne zunächst wesentlich mittrugen und später entscheidend unterminierten, die heute aber erneut in den Mittelpunkt postsowjetischer Fortschrittsvisionen gerückt sind. Alle im Projekt vereinten Forschungsvorhaben sind so angelegt, dass sie einschneidende chronologische Zäsuren der sowjetischen Geschichte – etwa die Jahre 1953 und 1991 – überspannen und so hinter den Brücken auch Kontinuitäten sichtbar machen.
- Mehrebenen-Analyse: Das Projekt ist als Mehrebenen-Untersuchung zur sowjetischen Technopolitik in ihren lokalen, unionsweiten und internationalen Bezügen angelegt. Alle Teilstudien setzen sich zum Ziel, die Mikrologik „technologischen Handelns“ in nuklearen Forschungs- und Produktionszentren mit der Makrologik der sowjetischen und globalen Politik des Kalten Kriegs zu verknüpfen. Dass alle Studien lokal verortet sind, ermöglicht nicht nur ein „close reading“ des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes, sondern verbessert auch den Zugang zum Quellenmaterial erheblich. Mit Bezug auf die gesamtsowjetische Ebene begreift die Studie die Sowjetunion als Ermöglichungsraum, der durch ungleich verteilte Chancen und Risiken gekennzeichnet war – eine Perspektive, die weiter hervorgehoben wird, indem postsowjetische Entwicklungen einbezogen werden. Indem sie explizit auch grenzüberschreitende Bezüge in den Blick nehmen, werden sämtliche Teilstudien schließlich auch dazu beitragen, die sowjetische Nukleargeschichte in den transnationalen Kontext der entangled history einzubeschreiben und mithin dazu beitragen, den historischen Ort Osteuropas in der Globalgeschichte der Hochmoderne klarer zu bestimmen.
Die Teilstudien
Im Rahmen des Gesamtprojekts entstehen drei Dissertationen und eine Habilitation:
„Nuklearer Internationalismus im Kalten Krieg. Akteure, Netzwerke und Wissenstransfer, 1955–1991“.
M.A. Fabian Lüscher

Sowjetische Delegation an der IV. Generalkonferenz der IAEA im September 1960. V.l.n.r.: Vasilij S. Emel’janov; Kirill V. Novikov; Vjačeslav M. Molotov. IAEA Imagebank.
Das Dissertationsprojekt untersucht internationale Netzwerke von Akteuren der Nuklearmoderne. Ihre Kontakte werden als hochgradig symbolisch aufgeladene, von Sinn- und Bedeutungszuschreibungen geprägte Beziehungen verstanden, die einen intensiven Wissens- und Kulturtransfer ermöglichten. Seit 1955 bestimmten ausgedehnte Konferenzreisen und Forschungsaufenthalte die Arbeitserfahrungen von Atomwissenschaftler/innen entscheidend mit. Der zunehmend internationalisierte Wissenschaftsdiskurs und die damit einhergehende veränderte Forschungspraxis zeichneten sich durch – nicht selten systemunabhängige – Fortschritts- und Zukunftsbegriffe und deren Transfer aus dem wissenschaftlichen in gesellschaftliche und politische Bereiche aus. Die Studie nähert sich über eine arbeits- und lebensweltliche Perspektive den sowjetischen Akteuren des entstehenden nuklearen Internationalismus und forscht nach Kooperation, Konkurrenz und Konflikt in einer Welt, die durch Nukleartechnologie gleichzeitig sowohl zusammenzuwachsen als auch auseinanderzudriften schien.
„Atommüllkatastrophen und Strahlenschutz. Nukleares Wissen und Technopolitik in der Region Čeljabinsk, 1949–1991“.
M.A. Laura Sembritzki
Gegenstand des Dissertationsprojekts ist die folgenschwere Atommüllexplosion im Chemiekombinat Majak 1957 und die damit verbundene radioaktive Kontamination großer Regionen im Süd-Ural. Im Mittelpunkt steht die Produktion und Zirkulation von nuklearem (Nicht-)Wissen sowohl innerhalb als auch zwischen neu entstehenden biophysikalischen und radiomedizinischen Forschungsinstituten, internationalen Organisationen sowie sowjetischen Partei- und Staatsbehörden. Dabei wird die Nukle-armoderne im Spannungsfeld von Fortschritt und Risiko betrachtet und das neu entstehende Feld der Strahlensicherheit analysiert, dem unter Bedingungen des Kalten Krieges zunehmend politische und gesellschaftliche Bedeutung zukam. Auf der Grundlage neu zugänglicher Archivbestände geht die Studie insbesondere darauf ein, in welcher Wechselbeziehung wissenschaftliche Erkenntnisse, sanitäre Praxis und administrative Entscheidungsprozesse standen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich bis in die Perestrojka-Zeit, als die nukleare Katastrophe von 1957 und ihre weitreichenden Folgen Thema hitzig geführter öffentlicher Debatten wurden. Neben der gesellschaftlichen Aushandlung von nuklearem „risk assessment“ werden zudem die rechtlichen Dimensionen und die Frage von Kompensationsleistungen erörtert, deren Einforderung im Zusammenhang mit dem Entstehen eines neuen Staatsbürgerbewusstseins zu sehen ist.
„Vom Geheimlabor zum Schaufenster des Sozialismus. Die nuklearen Forschungszentren in Dubna und Obninsk, 1956–1991“.
Dr. Roman Khandozhko
Im Dissertationsprojekt werden sowohl die lokalen als auch die transnationalen Bezüge der Organisation von „Großer Wissenschaft“ in der Sowjetunion am Beispiel weltweit bedeutender nuklearer Forschungszentren untersucht. Im geheimen Labor „V“ in der Oblast’ Kaluga (dem späteren Obninsker Physikalisch-Energetischen Institut) ging 1954 das „erste Kernkraftwerk der Welt“ ans Netz, das zum Aushängeschild für die friedlichen Absichten des sowjetischen Atomprojekts stilisiert wurde. Zwei Jahre später wurde in Dubna, im Norden der Oblast’ Moskau, das Vereinigte Institut für Kernforschung gegründet. Es entwickelte sich zum bedeutenden Kooperationszentrum für Kernphysiker des Ostblocks. Am Beispiel dieser beiden Atomstädte wird im Projekt die spezifische Konstellation von Geschlossenheit und Offenheit analysiert, die sich aus der Verschränkung von geheimer militärischer Atomforschung und breit angelegter internationaler Wissenschaftskooperation ergab.
„Oasis of the Future – The Atomic City of Shevchenko/Aktau, 1959–2019“.
Dr. Stefan Guth

Atomoase in der Wüste: Eine Stadtansicht Ševčenkos aus dem Jahr 1969. G. Koposov/RIA Novosti.
In his postdoctoral project, Guth investigates the role of nuclear technopolitics (Hecht) in the Soviet Union and beyond in a long-term perspective. Shevchenko started life as a secret uranium mining camp for the Soviet A-bomb project in the Western Kazakh desert, but was later transformed into a showcase of atomic-powered Communism (Josephson) that relied on cutting-edge nuclear technology to support a modernist model city and industrial cluster in the desert. Focusing on an urban microcosm, the project will tightly integrate the technological, environmental, political, social and cultural dimensions of the Soviet nuclear project – aspects that have hitherto mostly been studied in isolation from each other. At the same time, the project is conceptualized as a multi-level analysis of Soviet technopolitics in its local, all-Union and international dimensions.